Martin Ashauer: Seiðr
veröffentlicht in: Verein für Germanisches Heidentum [Hrsg.]: Ringhorn 65 / 2011, Seiten 18 – 22.
1 Seiðr
Heutzutage existieren mehrere sprachliche Herleitungen des seiðr-Begriffes. Erstens: Der Begriff seiðr wird meistens mit „sprechen, singen“ in Verbindung gebracht (siehe Paxson, Internetquelle). Gelegentlich findet sich in Texten jedoch auch eine zweite Herkunft aus der Bedeutung „Salz kochen“ bzw. „sieden“ abgeleitet, besonders wenn man seiðr in Zusammenhang mit ekstatischen Zuständen im Schamanismus in Verbindung bringen will. Drittens existiert eine mögliche Verbindung zu dem französischen séance, dem lateinischen sedere und dem altenglischen sittan. Seiðr könnte demnach mit etwas Phantasie als Sitzung mit den Geistern angesehen werden (Glosecki 1989, 97). Eine vierte Herleitung sieht seiðr in Zusammenhang mit dem altenglischen sadha. Seiðr hätte demnach eine Bedeutung von Band oder Fessel und hätte im Lateinischen eine Entsprechung in den Begriffen fascinum (= böser Zauber) und fascia (= Band) (Stucken 2006, 10). Die drei letzteren Deutungen gelten jedoch in der Forschung als zweifelhaft. Die Verknüpfung mit „sprechen, singen“ wird hingegen etymologisch durch das litauische „saitas“ (Zauberei) und „saitu“ (wahrsagen, Zeichen deuten) sowie das kymrische „soito“ (Magie) gestützt. Sie passt auch besser zu den Vorstellungen der Nordmänner, die gerade dem ausgesprochenen Wort eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit Magie beimessen.
Heute wird der Begriff seiðr auf zwei Arten verstanden: Zum einen als allgemeiner Über bzw. Sammelbegriff für die verschiedenen magischen Praktiken bei Germanen und Wikingern, wobei er sich dann ganz allgemein mit „Magie“ übersetzen ließe, wie es Kurt Oertel, der „Bewahrer“ des Eldarings vorschlägt (siehe Oertel, Internetquelle). Andererseits gilt seiðr oft als eine spezielle Ausprägung nordischer Magie, die von anderen nordischen Magieformen wie beispielsweise dem galdr oder dem an schwarze Magie erinnernden trolldomr deutlich abgegrenzt werden kann.
In Kapitel 7 der Ynglinga saga wird die Gottheit Odin mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten beschrieben. Seiðr bezeichnet dabei die Macht Odins „die Geschicke der Menschen und zukünftige Ereignisse vorherzusehen, so auch den Menschen Tod, Unglück oder Krankheit zuzufügen oder aber von Menschen Weisheit oder Kraft fortzunehmen und anderen zu geben.“(Übersetzung nach Kniprath, Wilhelm; in: Stucken 2006, 12) Deutlich wird jedoch in dieser historischen Quelle seiðr vom galdr abgegrenzt. Galdr zielt klar auf Odins herausragendes Wissen ab, wobei der Allvater viele Möglichkeiten nützte, um umfangreiches Wissen zu erlangen: Er trug Mimirs Haupt bei sich, er vermochte Tote zu erwecken, er befragte Seherinnen und er war in Begleitung zweier sprechender Raben, die ihm Neuigkeiten verkündeten. „Alle diese Fähigkeiten“, so berichtet die Ynglinga saga, „lehrte er mit Runen und den Liedern, die Zauberweisen (galdr) heißen.“ Etymologisch ist der Begriff galdr in der Tat mit dem Verb galan (singen, zwitschern) verwandt (Simek 1984, 116) und findet sich im althochdeutschen galdar und galstar sowie im angelsächsischen gealdor wieder (Maier 2003, 126), weshalb man davon ausgehen kann, dass galdrSprüche gesungen oder zumindest in besonderer Art und Weise rezitiert wurden. Auch Flowers sieht einen klaren Unterschied zwischen seiðr und galdr, wobei galdr im Gegensatz zum seiðr „more analytic, conscious, willed and ego-orientated“ (Flowers 1989, 13) sei. In der Tat ist galdr eng mit der Vorstellung von Geheimwissen verknüpft, die Bezeichnung Vielkundiger („fjölkunnigr“) kommt öfters in der nordischen Literatur für einen galdr Wirkenden vor hingegen nicht für eine Person, die im seiðr bewandert war. Der galdr gilt zudem als Domäne von Männern und wurde die zentrale Magieform auf Island, so dass man bei den isländischen Hexenprozessen besser von Hexerprozessen spricht – die überwiegende Anzahl der wegen galdr Verurteilten waren auf Island Männer.
Odin setzt seiðr öfters ein, um Informationen über die Zukunft zu erlangen. Er sei, so führt die Ynglinga saga weiter aus, in der Lage als Tiergeist durch die Welt zu streifen, wobei sein Körper während dieser Reise in einem Zustand scheinbarer Bewusstlosigkeit zurück bleibt. Die Vorstellung über gestaltwandlerische Fähigkeiten von Göttern, insbesondere von Odin, findet sich mehrfach in der nordischen Mythologie. Odin kann sich demnach in verschiedene Tiere verwandeln: Der Kwasirmythos berichtet, wie Odin in Gestalt einer Schlange in eine Höhle kriecht, um dort den Skaldenmet zu erbeuten, mit dem er dann als Adler nach Asgard fliegt. Im Heidreksrätsel aus den Spruchweisheiten der LiederEdda flieht Odin in Gestalt eines Falken vor dem aufgebrachten König Heidrek, der mit dem Schwert auf ihn losgeht. Auch die Göttin Freya verwendet seiðr zum Gestaltwandel und um Chaos unter ihren Gegnern anzurichten.
Price versteht seiðr als „tools in a toolkid of magic“: Je nach Zweck und Absicht könne man unterschiedliche Praktiken oder Sprüche des seiðr anwenden. Im Extremfall, so Price, kann seiðr sogar benutzt werden, um Feinde zu töten (Price 2007, 289). Richardson listet auf, welche konkreten Formen von Magie unter seiðr fallen: Er erwähnt insbesondere Seelenreisen, Gestaltwandel, Nekromantie, Flüche und Heilungen und schließt analog zu Price auch den Einsatz von seiðr im Kriegsfall nicht aus (siehe Richardson, Internetquelle). Interessanterweise steht seiðr trotz dieser vielfältigen Einsatzmöglichkeiten im Ruf, eine primär weibliche Form der Schadensmagie zu sein. In der Forschung wird außerdem die Verbindung zum Schamanismus diskutiert, wobei den schamanischen Praktiken der Samen und Finnen, die als besonders zauberkundig galten, die größte Aufmerksamkeit gilt.
1.1 Seiðr als Schadensmagie
Die Quellen neben einzelnen Skaldendichtungen, der Prosa und der Liederedda sind dies vor allem die nordischen Sagas bewerten den Einsatz von Seiðmagie weitgehend negativ und zeichnen ein kritisches Bild. Ausgenommen ist davon lediglich der Bereich der Prophetie, für den man auch häufig die Begriffe spá bzw. Völventum findet. Prophetie wurde als Kunst im Dienste des Allgemeinwohls verstanden, Seher(innen) galten als weise, ja sogar als heilige Menschen (Gundarsson 1990, 216). Inwieweit spá, Völventum und seiðr identisch sind, sich überlappen oder gar gegensätzliche Bedeutungen haben, ist allerdings umstritten. Eine Mehrheit der Forscher fasst spá im Sinne von Prophetie allerdings als Teilmenge des seiðr auf. Die bekannteste Schilderung einer Seherin findet sich in der Eiriks saga rauða. Hier wird detailliert der Auftritt der „spákona þorbjörg“ beschrieben, die „kleine Völva“ genannt wurde („hon var spákona ok var kölluð litilvölva“). Dieses Beispiel ist in Abhandlungen zu seiðr fast durchgehend als Musterfall des seiðr angeführt, obwohl im Original die Rede von einer spákona, nicht von einer seiðkona ist. Die Verbindung zum seiðr ergibt sich auf sprachlicher Ebene jedoch bei dem Hinweis auf den Gesang, den þorbjörg zum Gelingen ihrer Magie benötigt: um seiðr zu betreiben („at fremja seiðinn“).
Gundarsson führt Beispiele aus der Laxdæla saga, der Ynglinga saga, der Gisla saga Surssonar und der Egils saga an, in denen seiðr entweder zum Tod des Bezauberten, oder zu dessen Ruhelosigkeit führte, und zeigt damit exemplarisch, dass seiðr bei den Germanen und Wikingern eng mit der Vorstellung von Schadensmagie verbunden war. Er kommt zu dem Schluss, seiðr verursache beim Verzauberten psychische Störungen (siehe Gundarsson, Internetquelle). Es existieren nur sehr wenige Belege für positive Auswirkungen des seiðr. Lediglich in der Gunnars saga keldugnupsfifls und im Landnamabok finden sich Beschreibungen, bei denen der Einsatz von seiðr tatsächlich uneingeschränkt dem Guten dient: In der Gunnars saga keldugnupsfifls wird seiðr gewirkt, damit der Mörder von þordis Bruder þordis das ihr zustehende Wehrgeld bezahlt. Und das Landnamabok berichtet davon, dass mittels Seiðmagie in Zeiten einer Lebensmittelknappheit ein Fjord mit Fischen angefüllt wurde.
Es wäre naheliegend, für die negative Darstellung des seiðr in den nordischen Quellen die Verteufelung durch christliche Einflüsse und christliche Schreiber anzunehmen. Immerhin stammt die überwiegende Anzahl der Quellen aus Zeiten, in denen das Christentum bereits dominierte oder sich schon völlig durchgesetzt hatte. Doch schon in dem um das Jahr 960 verfassten Lied Sigurðardrapa des heidnischen Skalden Kormakr, also zu einer Zeit, als der Polytheismus in Island noch dominierte, wurde seiðr negativ geschildert. Ebenso wurde seiðr in der Völuspa, die keinerlei Bezug zum Christentum aufweist, kritisch gesehen. Somit könnte man annehmen, dass es tatsächlich auch der alten, heidnischen Sicht entsprach, seiðr als unehrenhafte Magie zu betrachten. Das negative Bild von seiðr kann folglich nicht nur auf einer Verzerrung durch christlichen Einfluss beruhen.
An dem schlechten Image ändert auch die Tatsache nichts, dass seiðr von Göttern betrieben wurde. Die Vanengöttin Freya galt als Meisterin des seiðr und unterrichtete schließlich auch die Asen, insbesondere Odin, in dieser Kunst. Selbst wenn es außer Kapitel 4 der Ynglinga saga keinen Beleg gibt, der explizit aussagt, Odin habe seiðr von Freya erlernt, ist das für Ártisson dennoch die logische Schlussfolgerung, da Freya es war, mit der seiðr zu den Asen kam (siehe Ártisson, Internetquelle). Doch selbst für den höchsten Gott Odin ziemte es sich nicht, seiðr zu wirken. Das geht eindeutig aus der Lokasenna hervor. Loki kontert hier den Vorwurf Odins, er, Loki, habe als Mann Kinder geboren, mit dem Hinweis, Odin möge besser schweigen, denn er habe ja schließlich seiðr betrieben. Genzmer übersetzt den nordischen Begriff ergi, den Loki gegen Odin anführt und der sich in der Lokasenna unmissverständlich auf Odins Seiðmagie bezieht, mit „des argen Art“ (Genzmer 1987, 97). Ergi wird meist als sexuell anrüchig verstanden, wie beispielsweise bei Gundarsson, der es als „sexually shameful“ übersetzt (siehe Gundarsson, Internetquelle) oder bei Price, der es in Verbindung mit Homosexualität bringt (Price 2007, 289).
1.2 Seiðr als weibliche Magie
Die Bezeichnung des von Odin gewirkten seiðr als ergi ist ein zentrales Argument für die Annahme, die Verwendung von seiðr sei für Männer unangemessen gewesen. Snorri Sturluson überliefert ausdrücklich die Ansicht, die Germanen hätten den Einsatz von seiðr für derart schändlich gehalten, dass man es nur Frauen bzw. Priesterinnen beibrachte. Man kann davon ausgehen, dass ergi in diesem Zusammenhang tatsächlich eine üble Beleidigung der Männlichkeit des so Beschimpften darstellt, denn auch das altisländische Gesetzbuch Gragas bestätigt diese Position. Diana Paxson führt dennoch als Gegenargument an, dass es in den Quellen neben der Bezeichnung seiðkona für eine weibliche Anwenderin von seiðr auch den offensichtlich gleichberechtigten Begriff seiðmadhr für Männer gebe. Als Beispiele für Männer, die kundig in seiðr gewesen sein sollen, nennt sie Ragnvald Rettilbeini, den Sohn von König Harald Schönhaar, und Eyvind Kelda, der von König Olaf ertränkt wurde. Paxson hält es daher für denkbar, dass zu einer früheren Zeit Männer wie Frauen gleichermaßen seiðr wirkten (siehe Paxson). Die Quellen beinhalten leider nur wenig konkretes Material, aus dem sich fundierte Schlüsse für die vorchristliche Zeit ableiten ließen. Natürlich darf trotz Paxsons Einwand nicht übersehen werden, dass männliche Anwender von seiðr in den Erzählungen in der Minderheit sind und dass das Töten von Rettilbeini und Kelda gerade deswegen als positive Taten geschildert werden, weil es sich um seiðmadhr handelt. Tatsächlich lässt sich eher eine weibliche Tradition belegen: So wurde schon in der Antike von römischen Autoren mehrfach die Sonderstellung der Frau als Zauberkundige, Seherin und Priesterin bei den Germanen betont, wofür die berühmte Seherin Veleda, der laut Tacitus’ Historien (IV. Buch, Kapitel 61) beinahe schon göttliche Verehrung zuteilwurde, als Beispiel gelten kann.
Eine interessante These, weshalb seiðr als für Männer schändlich angesehen wurde, liefert Price. Er hält es für möglich, dass bei einigen Formen des seiðr ein Geschlechtsakt stattgefunden haben mag, bei dem die physische Funktion der Frau eine wichtige Rolle spielte. In Verbindung mit den bekannten Vorurteilen der Nordleute gegenüber homosexuellen Praktiken sieht er den Argwohn gegenüber männlichen Seiðmagiern begründet (Price 2007, 290). Blain und Wallis geben eine alternative Erklärung, wieso gerade die Nordmänner der Ansicht gewesen sein könnten, seiðr sei mit männlicher Ehre unvereinbar: In der Gesellschaft der Wikinger war es das maskuline Ideal, so führen sie aus, einen Konflikt direkt anzugehen und offen auszutragen. Mit dem oft im Verborgenen gewirkten und sogar bei Fremden käuflich erwerbbaren seiðr, der auf psychische Manipulation abzielte, wäre dieses männliche Ideal unvereinbar gewesen (siehe Blain / Wallis, Internetquelle). Unstrittig kann man festhalten, dass in den Quellen weibliche Charaktere für die ursprüngliche Ausbreitung des seiðr verantwortlich waren: Die magiekundige Gullveig soll seiðr den Menschen gebracht haben, von Freya gelangte der seiðr wie bereits erwähnt zu den Asen.
1.3 Seiðr als Schamanismus
Der Frage, in wie weit das Ausüben von seiðr eine Form des Schamanismus war oder zumindest stark vom Schamanismus der Samen, Lappen oder Finnen beeinflusst wurde, kann man sich aus verschiedenen Richtungen nähern. Große Bedeutung kommt den wenigen überlieferten Beschreibungen von Seiðr-Ritualen zu. De Vries führt einen besonderen, meist erhöhten Sitzplatz, den seiðhjallr, an, auf dem die Zauberin Platz nahm – wahrscheinlich um sich von der profanen Welt abzuheben. Ebenso erwähnt er einen speziellen Stab, auch wenn sich dessen genaue Funktion nicht rekonstruieren lässt, und dass lappische Zaubertrommeln (varðlokkur) benutzt wurden (De Vries 1956, 330 f.). Der Einsatz der Trommeln ist bedeutend, gelten Trommeln doch als bevorzugte Musikinstrumente, um die für Schamanismus typischen ekstatischen Zustände zu erreichen. Mit Blick auf die Sagen stellt Ártisson fest, dass eine seiðkona fast nie alleine auftrat. In der Haralðs Saga ins Hárfagra soll das Gefolge sogar an die 80 Mann gezählt haben (siehe Ártisson, Internetquelle). Das lässt den Schluss zu, dass zumindest einige Seiðrituale komplex gestaltet gewesen sein können.
Price diskutiert eine mögliche Verbindung zu Odin: Einerseits, weil Krieger auf gefundenen Textilien und Metallen mit vergleichbaren Stäben in Händen als Abbilder Odins interpretiert wurden. Andererseits, weil Vieles von Odin an Schamanismus erinnere. Price führt insbesondere Odins Tiere an, so die Raben Hugin und Munin, die ihn mit Informationen versorgten, sowie sein achtbeiniges Pferd Sleipnir, mit dessen Hilfe er sich durch alle Welten bewegen konnte (Price 2000, 70). Auch Gundarsson findet gute Gründe, Odin in die Nähe von Schamanismus zu rücken: Odin sei Totengott, Gott der Magie und gerade die Geschichte im Hávamál, wie Odin an der Weltenesche hing, erinnere sehr an schamanische Vorstellungen (siehe Gundarsson, Internetquelle). Ein anderes Indiz für eine Verbindung zum samischen Schamanismus leitet Blain aus den Texten der Sagen ab. So betonen beispielsweise die Heimskringla und die Egil saga, dass Gunnhildr, die als seiðkundig galt, ihre Magie bei den Finnen erlernt habe (Blain 2002, 136 f.).
Mitentscheidend für die Frage, ob es sich bei seiðr um Schamanismus handelt, ist natürlich die Definition von Schamanismus. Diese kann sehr unterschiedlich ausfallen. Für Eliade war ein wichtiges Kriterium des Schamanismus die Seelenreise in eine höhere Welt (Eliade 1964). Jakobsen versteht Schamanismus eher als Mittel um Geister zu beherrschen (Jakobsen 1999). Die Problematik einer treffenden Definition von Schamanismus kann im Rahmen dieses Artikels allerdings nicht behandelt werden. Wichtig erscheint dennoch die Einschätzung von Price, der seiðr weder isoliert noch abhängig vom samischen Schamanismus sieht, sondern ihn als Teil einer „circumpolar shamanic sphere“ verortet (Price 2007, 290).
1.4 Modernes seiðr
Die Quellenlage liefert zwar kein 100%ig eindeutiges Bild. Die Tendenz geht jedoch in die Richtung, dass das historische seiðr eine spezielle Magieform neben anderen darstellt, welche primär weiblich geprägt ist und zum Ziel hat, anderen zu schaden.
Doch dem muss nicht heute auch so sein. Im Gegensatz zu den großen Buchreligionen Christentum und Islam kann sich der Glaube in einer Naturreligion wandeln und das, was vor 1.000 Jahren galt und niedergeschrieben wurde, muss nicht auch heute exakt so gelten muss. Das sieht auch Hans Stucken so: Die heutige Gesellschaft sei eine ganz andere als zur Zeit der Germanen und Wikinger und so ergäben sich auch neue Einsatzfelder von seiðr. Damit werden, so führt Stucken weiter aus, nicht die durch die Quellen bestätigten Gebiete des seiðr außer Kraft gesetzt, sondern sie werden um moderne Einsatzfelder ergänzt. Explizit führt Stucken die Behandlung physischer und psychischer Erkrankungen bei Mensch und Tier, die Kommunikation mit der eigenen Fylgja, die Vertreibung störender Einflüsse, die Erkundung der neun Welten im Rahmen einer ganzheitlich-spirituellen Sinnsuche, das Arbeiten mit Besessenheitszuständen und die Stärkung der Verbindung zur örtlichen Flora und Fauna als neue, zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten für zeitgemäßen seiðr an (Stucken 2006, 17). Schadensmagie könne demnach für Stucken auch heute noch eine Unterdisziplin von seiðr sein, eine Betonung des schädigenden Aspekts des modernen seiðr lässt sich bei ihm jedoch nicht ausmachen. Eher ist das Gegenteil der Fall: Ein ganzes Kapitel (ab S. 46 letztgenannter Quelle) widmet Stucken der Heilung mittels seiðr – also einem überaus positivem Aspekt der Magie.
1.5 Quellen:
Blain, Jenny: Seidr, Engerda 2002.
De Vries, Jan: Altgermanische Religionsgeschichte, Berlin 1956, Band 1.
Eliade, Mircea: Schamanism: Archaic Techniques of Ecstasy, New York 1964.
Flowers, Stephen: The Galdrabok, York 1989.
Genzmer, Felix: Die Edda: Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen, München 1987.
Glosecki, Stephan: Shamanism and Old English poetry, New York 1989.
Gundarsson, Kveldúlfr: Teutonic Magic, St. Paul 1990.
Jakobsen, Merete Demant: Shamanism: Traditional and Contemporary Approaches to the Mastery of Spirits and Healing, New York, 1999.
Maier, Bernhard: Die Religion der Germanen, München 2003.
Price, Neil: Shamanism and the Vikings?, in: Fitzhugh, William [Hrsg.]: Vikings, Washington 2000.
Price, Neil: Sejd, sorcery and shamanism in the Viking Age, in: Andren, Anders [Hrsg.]: Odens Öga, Helsingborg 2007.
Simek, Rudolf: Lexikon der germanischen Mythologie, Stuttgart 1984.
Stucken, Hans: Das Seidhr Handbuch, Hamburg 2006.
1.6 Quellen aus dem Internet:
Ártisson, Radböd: On SeiðR, aus den Internetpublikationen der Irminen Gesellschaft:
http://www.geocities.ws/irminenschaft/Contributions/Seidhr.html [06.05.2011].
Blain, Jenny & Wallis, Robert: Seiðr, Gender and Transformation From the Sagas to the New Millennium, aus den Internetpublikation des Troth:
http://preterhuman.net/texts/religion.occult.new_age/Asatru/Community_Resources/Jenny%20Blain/Sei%C3%B0r%20Articles%20Academic%20and%20Pragmatic/Sei%C3%B0r,%20Gender%20and%20Transformation%20%20from%20the%20Sagas%20to%20the%20New%20Millennium.htm [05.05.2011].
Gundarsson, Kveldúlfr: SpaeCraft, Seiðr, and Shamanism, aus den Internetpublikation des Troth:
http://www.thetroth.org/Articles/p2000_articleid/78 [15.09.2008]
Oertel, Kurt: Seidhr und Völventum, aus den Internetpublikationen des Eldaring: http://eldaring.de/readarticle.php?article_id=9 [05.05.2011].
Paxson, Diana: The Return of the Völva, aus den Internetpublikationen der Hrafnar: http://www.hrafnar.org/seidh.html [15.04.2011].
Richardson, Ed: Seiðr Magic, auf der Internetseite von Phil Hine: http://www.philhine.org.uk/writings/ess_seidr.html [06.05.2011].