(veröffentlicht in der Zeitschrift Shekinah Nr. 4 in 2008)

 

In den letzten Jahren hat das Interesse an Seiðr spürbar zugenommen. Infolge dessen ist die Anzahl der Veröffentlichungen, egal ob Artikel, Bücher und Forenbeiträge, gestiegen. Bei dem Lesen vieler Veröffentlichungen finden sich widersprüchliche Aussagen und Fehlinterpretationen wider, die einerseits auf die mangelnde Quellenlage, andererseits auf die Unkenntnis dieser zurück zu führen ist. Dieser kurze Abriss soll den interessierten Leser helfen, einen groben Überblick zu bekommen und vielleicht bei dem einen oder anderen das Interesse an Seiðr zu entfachen. Zum weiteren Studium sei auf die Quellen am Ende des Beitrags hingewiesen.

 

Was ist Seiðr?

 

Es hat sich in die Meinung heraus gebildet, dass Seiðr eine bestimmte Form eines „nordischen Schamanismus“ sei, die zumeist von Frauen praktiziert wird, da Seiðr als „unmännlich“ angesehen wurde, was Odin nicht daran hinderte, trotzdem Seiðr zu praktizieren. Auch wird mittlerweile zwischen Seiðr und Galdr unterschieden, und Bereiche wie die Runenmagie werden vollkommen ausgespart.

Im Allgemeinen wird angenommen, dass sich der Name Seiðr von einem Begriff ableite, der „sieden“ bedeutet. Dieser Erklärung folgt oft der Hinweis auf die tranceähnlichen Zustände, die den „seiðmaðr“ (Zaubermann, also Zauberer oder Magier) oder „seiðkona“ (Zauberfrau) zum „sieden“ bringen. Gerade Autoren aus der Wicca-Ecke legen gern einen drauf wenn sie eine Verbindung zum „überkochenden Hexenkessel“ herstellen wollen.

Die altnordische Form von „sieden“ lautet jedoch „sjodha“, welche mit der Verbform „sidha“ für das Ausüben von Seiðr sprachlich nichts zu tun hat. Wie bereits von Kurt Oertel[1] treffend formuliert, ist

 

Das Wort „seiðr“ (...) im Altnordischen ganz eindeutig der völlig umfassende Oberbegriff für Magie insgesamt und fasst genau all jene (oft sehr unterschiedlichen) Praktiken zusammen, die wir auch heute unter dem Begriff „Magie“ verstehen. Es bezeichnet keine spezielle magische Unterabteilung, Sonderdisziplin oder Einzeltechnik. An dieser umfassenden Bedeutung des Wortes gibt es keinen Zweifel und darüber herrscht auch sprachwissenschaftlich völlige Einigkeit.

 

Seiðr ist also nichts weiter als der altnordische Name für das, was wir unter Magie verstehen. In seiner ursprünglichen Bedeutung versteht man unter Seiðr meist einen Schadenzauber (siehe Unten). In diesem Kontext finden sich einige sehr interessante, aber auch verwirrende Informationen im Kapitel 7 in der Ynglinga Saga des Snorri Sturluson:

 

Odin besaß auch die Fertigkeit, die größte Macht verlieh, und wandte sie auch selbst an; sie heißt Seidhr. Ihretwegen vermochte er die Geschicke der Menschen und zukünftige Ereignisse vorherzusehen, so auch den Menschen Tod, Unglück oder Krankheit zuzufügen oder aber von Menschen Weisheit oder Kraft fortzunehmen und anderen zu geben.

Aber dieser Zauberei, wenn sie angewendet wird, folgt solche Schlechtigkeit und Niedertracht, daß es den Männern nicht frei von Schande zu sein scheint, sie zu betreiben und so wurden die Priesterinnen in dieser Fertigkeit unterrichtet.[2]

 

Einerseits erfahren wir im gesamten 7. Kapitel der Ynglinga Saga, wie umfangreich Seiðr ist, und andererseits, warum Seiðr als „unmännlich“ angesehen wurde: anstatt seinen Gegner in einem fairen Kampf zu besiegen, konnte man mit Hilfe von Seiðr „den Menschen Tod, Unglück oder Krankheit zuzufügen oder aber von Menschen Weisheit oder Kraft fortzunehmen und anderen zu geben“. Magie als Waffe gegen seinen Gegner einzusetzen widerspricht dem germanischen Ideal der Kriegerehre und galt als Feige, weibisch und unmännlich. Im 4. Kapitel der Ynglinga Saga wird zudem noch erwähnt, dass die Wanengöttin Freyja den Asen das Wissen um die Kunst des Seiðr lehrte.[3]

Die meisten Quellen legen den Verdacht nahe, dass Seiðr fast ausschließlich für Schadenszauber verwendet wurden, wie z. B. in Völuspá 22, wo von der Zauberin Heiðr gesagt wird „Sie praktizierte Seidhr, wo immer sie konnte, praktizierte Seidhr und verstörte die Sinne. Stets war sie die Wonne übler Weiber.“ oder in dem Preislied Sigurðardrápa: „seið Yggr til Rindar“ (Yggr Seidhr gegen Rindr anwandte). Yggr (Odin) trieb durch Seiðr die Rindr in einen vorübergehenden Wahnsinn, um sie zu vergewaltigen und Vali zu zeugen. Als die einzige positive Ausnahme von Seiðr kann der Fall der Þuríðr sundafyllir genannt werden, die in Zeiten des Hungers Seiðr anwandte, so dass es in einer Meerenge im Hálogaland von Fischen nur so wimmelte.

Die negative Wertung des Seiðr wird heute gern auf die Christianisierung zurückgeführt, da die meisten Belege aus dem bereits christianisierten Skandinavien stammen. Die hier angeführten Beispiele jedoch stammen noch aus der heidnischen Zeit und belegen somit, dass Seiðr schon früher ein böswilliges Treiben gesellschaftlicher Außenseiter war. Das Volk bediente sich den Seiðr-Kundigen gern wenn sie ihre Hilfe benötigten, wie zum Beispiel bei einem Heilzauber, Wetterzauber oder Schutzzauber. Wenn jedoch jemanden etwas Böses widerfuhr, wie z. B. eine schlechte Ernte oder Viehsterben, so wurden die selben Seiðr-Kundigen sofort verdächtigt, verfolgt und sogar getötet, meist durch Verbrennung auf dem Scheiterhaufen.[4]

Auch wenn Seiðr meist ein Schadenszauber ist, so darf man nicht den Fehler machen, Seiðr mit sogenannter „Schwarzer Magie“ gleichzusetzen oder Seiðr in „schwarzen und weißen Seiðr“ zu unterteilen, je nachdem ob Seidr jemanden hilft oder jemanden schadet. Mit dieser modernen Unterteilung der Magie hat Seiðr nicht viel gemeinsam.

In der bereits erwähnten und zitierten Ynglinga Saga finden wir noch weitere interessante Formen des Seiðr, die unter dem Begriff „Galdr“ aufgezählt werden. Unter anderem berichtet uns Snorri Sturluson davon, dass Odin seine Gestalt wechseln konnte während sein Körper „wie schlafend oder tot“ da lag, „er selbst war dann ein Vogel oder ein wildes Tier, ein Fisch oder eine Schlange und begab sich in einem Augenblick in entfernte Länder zu seinen oder anderer Männer Angelegenheiten.“ Weiter heißt es: „Alle diese Fähigkeiten lehrte er mit Runen und den Liedern, die Zauberweisen (galdr) heißen. Daher werden die Asen Zauberschmiede (Galdr-Schmiede) genannt.“

Beim Galdr handelt es sich um Zauberlieder, deren Klang sich bedauerlicher Weise heute nicht mehr rekonstruieren lässt. Es werden Vermutungen angestellt, dass es sich bei den Seidhlaeti (Seiðrlieder) um einen speziellen Kehlkopfgesang handelt, so wie er bei vielen Völkern üblich war und ist. Aus der Eiriks saga Raudha wissen wir, dass Galdr genutzt wurde um Geister zu beschwören.

Eine weitere Form des Seiðr, die einem in der Literatur begegnet, ist das Utiseta, was so viel wie „Draußensitzen“ bedeutet. Die Quellenlage hierzu ist spärlich, jedoch steht fest dass das Utiseta allein praktiziert wurde (im Gegensatz zu den Spá-Sitzungen in der Gruppe) und weit mehr als eine Meditation im Freien ist. Vielmehr ist das Utiseta eine Kontaktaufnahme mit anderen Welten zur Erlangung zusätzlicher Weisheit, allein durch eine innere Versenkung und oft mit Hilfe von Beschwörungsformeln und Zaubergesängen. Häufig werden hierbei, wie bei schamanischen Reisen, eine Trommel verwendet, was aber weder zwingend erforderlich ist noch so überliefert. Utiseta-Sitzungen finden sich häufig in Verbindung mit nekromantischen Ritualen wieder, bei denen man auf Gräbern sitzt und in Kontakt mit den Verstorbenen tritt, um an deren Wissen zu gelangen.[5]

Im Althochdeutschen ist uns der ähnliche Begriff hliodarsazzo überliefert, der so viel wie „sitzen um zuzuhören“ bedeutet. Beim Utiseta sind abgelegene Orte wie Grabhügel, Galgenbäume und Wegkreuzungen überliefert. Denn Platz, den man für eine Utiseta-Sitzung auswählt, hat natürlich einen starken Einfluss auf das Resultat der Sitzung. Wenn man die dunkle Seite Odins erforschen will, so eignen sich Kreuzwege und Galgenplätze besonders gut. Um an das Wissen von Ahnen zu gelangen empfehlen sich deren Gräber. Das ist natürlich kein Spiel oder ein Abenteuer für Grufties, die am Weltschmerz leiden, sondern man bedient sich hierbei dem Wissen der Verstorbenen. Die Ruhe der Totengeister muss man respektvoll begegnen, eine Erweckung dieser sollte nur dann vollzogen werden, wenn es unbedingt erforderlich ist.

Bei der Ausübung von sämtlichen Seiðr-Varianten spielten den alten Quellen nach die Götter eine eher untergeordnete Rolle, soweit dies überhaupt im nordischen Glauben möglich war. Den in deren Glauben war das Schicksal der Menschen und Götter miteinander verflochten. Trotzdem wurden im Seiðr weder Götter beschworen noch Dämonen evoziert. Man bedient sich schlicht und einfach einer Reihe von pragmatischen Techniken, um das Gewollte zu erreichen. Seiðr ist in diesem Zusammenhang ein Vehikel für die angeborene Macht und Stärke des Seiðmaðr, mitunter auch ein Weg diese Stärke auf verborgenen Pfaden erst wirklich zu entdecken und nutzbar zu machen.

Das moderne Seiðr, so wie es heute seine Anwendung findet, vereint zum Teil Dinge, die der Begriff Seiðr in den Originalquellen der altnordischen Literatur so nicht hergibt. Wenn man sich dies bewusst ist, so kann der moderne Seiðkonur den Begriff für sich neu definieren und mit neuen Inhalten füllen, wie es zum Beispiel Forschungsgruppe „Seidhrfeuer“ für sich getan hat. Sie verstehen unter Seidhr (...) die Ausübung okkulter Praktiken vor dem Hintergrund der nordisch-germanischen Mythologie.

Wer sich also mit Seiðr beschäftigen will, der muss dieses nicht zwingend unter der Berücksichtigung der Quellen tun, sondern er kann dies auch bewusst mit neuen, modernen Praktiken der Magie füllen. Er sollte in diesem Fall dann aber von einem modernen Seiðr sprechen und keinem Traditionellen.

 

 

Quellen und Literaturempfehlung:

[1] Oertel, Kurt: Seidhr und Völventum, Online-Artikel auf http://eldaring.de/modules.php?name=News&file=article&sid=147&mode=thread&order=1&thold=0

[2] Nach einer Übersetzung von Wilhelm Kniprath

[3] „Njörds Tochter hieß Freyja, sie war eine Opferpriesterin. Sie unterwies zuerst die Asen in der Zauberkunst [seidhr], die bei den Wanen üblich war.“

[4] Die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen gab es schon vor der Blüte der Hexenverfolgung, sie ist also keine christliche Erfindung.

[5] Siehe hierzu Edda, wo Odin an mehreren Stellen (u. a. Völuspa, Baldrs draumar) die Verstorbene Wöla beschwört um Antworten zu bekommen. In der Ynglinga Saga heißt es über Odin: „Und manchmal erweckte er Tote aus der Erde oder begab sich unter Gehenkte. Deshalb wurde er Herr der Geister oder Gott der Gehenkten genannt.“

 

 

Blain, Jenny: Seiðr

Fries, Jan: Seidwärts

Gundarsson, Kveldulfr: Spáe-Craft, Seidhr and Shamanism.

Oertel, Kurt: Seidhr und Völventum

Price, Neil: The Archaeology of Shamanism

Runic, John: The Seidhr Book.

Stucken, Hans: Das Seidhr Handbuch

www.seidhrfeuer.de

 

 

 

 

 

 



[1] Oertel, Kurt: Seidhr und Völventum, Online-Artikel auf http://eldaring.de/modules.php?name=News&file=article&sid=147&mode=thread&order=1&thold=0

[2] Nach einer Übersetzung von Wilhelm Kniprath

[3] „Njörds Tochter hieß Freyja, sie war eine Opferpriesterin. Sie unterwies zuerst die Asen in der Zauberkunst [seidhr], die bei den Wanen üblich war.“

[4] Die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen gab es schon vor der Blüte der Hexenverfolgung, sie ist also keine christliche Erfindung.

[5] Siehe hierzu Edda, wo Odin an mehreren Stellen (u. a. Völuspa, Baldrs draumar) die Verstorbene Wöla beschwört um Antworten zu bekommen. In der Ynglinga Saga heißt es über Odin: „Und manchmal erweckte er Tote aus der Erde oder begab sich unter Gehenkte. Deshalb wurde er Herr der Geister oder Gott der Gehenkten genannt.“