Kurt Oertel: Seidhr und Völventum
veröffentlicht in Herdfeuer Nr. 12 (Zeitschrift des Eldaring e.V.); 2006 sowie unter www.eldaring.de
Der Begriff Seidhr (oder richtig: seiðr) und die damit angeblich zusammenhängenden Techniken
erfreuen sich im modernen Ásatrú zunehmender Faszination und Beliebtheit, wobei der Begriff
heute aber ganz anders verstanden zu werden scheint, als es die Quellenlage hergibt. Es scheint
da einige Missverständnisse zu geben, die ich hier einmal richtigstellen möchte. Natürlich kann
man den Begriff heute neu definieren und mit neuen Inhalten füllen. Man muss sich dann aber
auch darüber klar sein, dass es sich um eine gänzliche Neudefinition handelt, die nicht mehr viel
mit dem ursprünglichen Begriff zu tun hat und das auch immer deutlich machen, um
Missverständnisse bei Quellenkundlern zu vermeiden.
Es hat sich offenbar die Meinung herausgebildet, Seidhr sei eine spezielle Form magischer Praxis,
die irgendwie "schamanisch" geprägt sei, darüber hinaus etwas speziell weibliches an sich habe
und ganz eng mit der Praxis der Seherinnen (Völven oder Völvas) zusammenhänge. Das wird dann
oft von anderen Praktiken abgegrenzt, wie z.B. der Runenmagie oder dem "Galdr" (wörtlich:
Zaubergesang), die eher in "ritualmagischer" Richtung aufgefasst werden, wo es also auf
Beherrschung genauer Formeln oder strenger Ritualvorgaben ankäme, während Seidhr eher "aus
dem Bauch" heraus funktioniere und vor allem mit Geistreisen und veränderten
Bewusstseinszuständen zu tun habe.
Diese Meinung ist schlicht und einfach falsch. Das Wort "seiðr" ist im Altnordischen ganz eindeutig
der völlig umfassende Oberbegriff für Magie insgesamt und fasst genau all jene (oft sehr
unterschiedlichen) Praktiken zusammen, die wir auch heute unter dem Begriff "Magie" verstehen.
Es bezeichnet keine spezielle magische Unterabteilung, Sonderdisziplin oder Einzeltechnik. An
dieser umfassenden Bedeutung des Wortes gibt es keinen Zweifel und darüber herrscht auch
sprachwissenschaftlich völlige Einigkeit.
Gerade die schamanischen Techniken der vielfach bezeugten Seherinnen werden in den Quellen
aber durchweg mit dem ganz anderen Begriff "spá" bezeichnet, der als in scharfem Gegensatz zu
"seiðr" stehend erscheint.
Die Frage, wie es zu diesem populären Missverständnis kommen konnte, scheint dabei relativ
einfach beantwortbar zu sein. Sie beruht vor allem auf der immer wieder zitierten Stelle von Snorri
aus der Ynglinga Saga, Kap. 7, in der er seiner Meinung über Magie Ausdruck gibt:
"Odin praktizierte und beherrschte die Kunst, die am mächtigsten ist, und Magie ("seiðr") genannt
wird, und dadurch kannte er das Schicksal der Menschen und die Gefahren der Zukunft und
ebenso, wie man einem Menschen den Tod oder Unglück oder eine Krankheit bringt und wie man
die Menschen um Kraft und Verstand bringt und sie jemand anderem gibt. Aber mit dieser
Weisheit war so große Schande verbunden, dass die Männer meinten, sie könnten sie nicht ohne
Schande ausüben und darum brachte man diese Kunst den Priesterinnen bei."
In Kap. 4 erwähnt er weiterhin, dass es Freyja gewesen sei, die als Lehrerin der Magie diese erst
zu den Asen gebracht hätte. Hier haben wir also in beiden Aussagen einen weiblichen Bezug, der
ein weiterer Grund für das Missverständnis gewesen sein dürfte. Bereits aus Snorris Zitat geht aber
hervor, dass hier eine große Palette von Magie gemeint ist, die hier (und das ist sehr bezeichnend)
auch noch ausschließlich als Schadenszauber verstanden wird, nicht aber auf irgendwelche
speziellen Techniken zu reduzieren ist. Wenn es überhaupt stimmt, dass Magie unter Männern
verachtet war, dann aus dem Grund, weil der Einsatz von Magie als "Waffe" gegen Menschen -
und vor allem eben als Schadenszauber - ganz klar dem germanischen Ideal der Kriegerehre
widersprochen hat, nicht aber etwa deshalb, weil sie mit irgendwelchen speziell weiblichen
Mysterien verbunden gewesen wäre, wie es heute manchmal gerne hineingelesen zu werden
scheint.
Wer die Ynglinga Saga kennt, wird sich angesichts all der dort von Snorri erzählten Seltsamkeiten
sowieso wundern. Die ganze mythische Vorgeschichte ist hier eine solch krause Mischung aus
mythologischer Überlieferung (die allerdings einige interessante Details enthält), vielleicht nicht
richtig Verstandenem und von Snorri Zusammengeführtem, dass es kaum glaubhaft scheint, dass
derselbe Autor auch Gylfaginning verfasst haben soll, wo inhaltlich krass Gegensätzliches
behauptet wird. Hier werden die nordischen Götter nämlich als frühe menschliche Könige
Schwedens geschildert, die sich mit List und Magie einen solchen Ruf erarbeitet hätten, dass sie
als Götter verehrt worden seien. Natürlich könnte man argumentieren, dass Snorri hier rein
schwedische Traditionen wiedergibt, die in dem Fall aber ganz erheblich von norwegisch-
isländischen Mythen abgewichen sein müssten (was allerdings plausibel sein könnte). Als "Quelle"
ist den Angaben deshalb mit einigem Misstrauen zu begegnen, und zudem macht gerade das
obige Zitat (erst recht im Zusammenhang) seine christliche Ablehnung dieser Praktiken klar. Unklar
bleibt auch, wer "die Priesterinnen" sein sollen, für die es in der Form keinen einzigen anderen
Beleg gibt. Natürlich gab es Gyðjas, also weibliche Goden, aber es gibt keine einzige Stelle, in der
Goden oder Gyðjas mit Seidhr oder Völventum in Verbindung gebracht werden. Vor allem steht die
Angabe, dass die Fähigkeit der Zukunftsschau und Weissagung (Spá) ebenfalls dem Bereich der
Magie (Seidhr) zuzurechnen sei, im Widerspruch zur Gesamtheit der übrigen Quellenlage. Leider
findet sich nun auch in Simeks (sonst sehr empfehlenswertem) "Lexikon der germanischen
Mythologie" unter dem Eintrag "Seherinnen" der folgenschwere Satz:
"Die in den Sagas beschriebenen Praktiken der Seherinnen werden als Seiðr "Zauber" bezeichnet
und unterscheiden sich nur unwesentlich von solchen des andernorts erwähnten
Schadenszaubers". (S. 347 der 1. Aufl.)
Diese Behauptung ist eine wörtliche Übernahme der oben zitierten Meinung Snorris, und sie ist
mehr als problematisch. Wenn man sich nämlich einmal die Mühe macht, alle Stellen genau im
Original zu prüfen, in denen von Seherinnen (Völven und "spákonur") und Zauberinnen/Hexen
(seiðkonur) die Rede ist, gerät diese Behauptung erheblich ins Wanken. Dazu später mehr.
Zunächst weiter zum Thema Seidhr (Hexerei, Zauberei):
Gerade die Quellen machen klar, dass Seidhr keine rein weibliche Domäne gewesen sein dürfte,
denn das Wort "seiðmaðr" (Zaubermann, also Zauberer oder Magier) ist genauso belegt wie das
weibliche "seiðkona" (Zauberfrau). Richtig aber ist, dass sich der Begriff tatsächlich durchweg auf
ausschließlich schadenszauberische Tätigkeiten beschränkt, die sich als psychischer Zwang auf
andere Menschen äußert, der zu geistiger Verwirrung und sogar Tod führen kann. Wenn es
dagegen z.B. um Beruhigung eines Unwetters, Schutz für einen Krieger oder ähnlich Positives ging,
findet sich häufiger der Begriff "galdr". Die Frage, ob es nun seinerseits eine solche strenge
Trennung zwischen Seidhr und Galdr den damaligen Realitäten entsprach, sollte man zwar nicht zu
voreilig heutigen Theoretisierungsversuchen unterwerfen, dennoch werden in den Quellen Seidhr-
Leute fast durchgängig als boshaft und verabscheuungswürdig dargestellt. Nie wird der Begriff für
Heilzauber oder andere positive Techniken benutzt. Als einzige Ausnahme könnte der Fall der
Þuríðr sundafyllir stehen, die ihren Beinamen "Sundfüllerin" deshalb trug, weil sie in Zeiten des
Hungers Seidhr anwandte, so dass eine Meerenge im Hálogaland von Fischen nur so wimmelte.
Aber auch hier finden wir das in anderen Belegen nachweisbare Muster psychischer Manipulation
(auch wenn es hier nicht auf Menschen angewandt wird).
Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass die negative Darstellung von Seidhr bereits einen
christlichen Einfluss widerspiegeln könnte. Aber Snorris spätere Einschätzung und Ablehnung
finden sich auch schon in heidnischen Quellen, so in Völuspá 22, wo von der Zauberin Heiðr
gesagt wird: "Sie praktizierte Seidhr, wo immer sie konnte, praktizierte Seidhr und verstörte die
Sinne. Stets war sie die Wonne übler Weiber." Auch hier also wieder das Merkmal psychischer
Manipulation als Merkmal von Seidhr und die eindeutige Aussage, dass der Dichter der Völuspá
Seidhr offenbar als negativ und sogar verabscheuungswürdig empfand. Da die Entstehung des
Gedichtes auf ca. 1000 n.d.Z. geschätzt wird und der Dichter hier alles Heidnische positiv darstellt,
darf man daraus durchaus ableiten, dass sein Verständnis des Begriffes dem in der heidnischen
Gesellschaft entsprochen haben dürfte. In dem Preislied Sigurðardrápa des Skalden Kormákr
Ögmundarson (ca. 960 n.d.Z.) wird erwähnt, dass "seið Yggr til Rindar" (Yggr Seidhr gegen Rindr
anwandte). Da wir wissen, dass Yggr (Odin) Rindr in einen vorübergehenden Wahnsinn trieb, um
sie zu vergewaltigen und Vali zu zeugen, dürfte auch diese Erwähnung nicht unbedingt als
leuchtendes Vorbild gemeint sein. Beide Belege sprechen also gegen die Meinung, Seidhr sei eine
in heidnischem Kontext positive Bezeichnung gewesen, die erst in den späteren Sagas durch
christlichen Einfluss in Verruf geriet.
Die Stellung dieser Seidhr-Kundigen in der Gesellschaft dürfte dabei genauso ambivalent gewesen
sein, wie zu allen Zeiten und in vielen Kulturen: Man bediente sich ihrer gerne, wenn man sie
brauchte oder sie einem nützlich sein konnten. Andererseits waren sie auf Grund ihres Rufes auch
gefürchtet und dadurch auch die naheliegendsten Sündenböcke, wenn einem das Vieh wegstarb,
und sie wurden bei entsprechendem Verdacht genauso verfolgt und getötet (vorzugsweise
verbrannt), wie die angeblichen Hexen der Neuzeit (nur das zutiefst christliche Mittelalter war
weitgehend frei von "Hexenverfolgungen"). Dennoch ist das Gesamtbild eindeutig: Seidhr war
nicht Teil irgendeiner religiösen Praxis, sondern zauberisches und im allgemeinen böswilliges
Treiben gesellschaftlicher Außenseiter.
Bevor wir uns jetzt dem Thema "Völventum" zuwenden, muss noch einmal deutlich gemacht
werden, dass die "Quellen" (die auch ich bisher so bezeichnet habe) zum Thema Seidhr und
Völventum diesen Ausdruck eigentlich nicht verdienen, denn die spärlichen Hinweise finden sich
fast ausschließlich in den Sagas. Das soll nicht heißen, dass die gänzlich ohne Quellenwert sind,
aber man darf nie vergessen, dass es sich dabei eben nicht um historische Aufzeichnungen,
sondern um "Romane", um pure Unterhaltungsliteratur im besten heutigen Sinne handelt. So
wertvoll und verlässlich sie in der Beschreibung gesellschaftlicher Zustände und Gegebenheiten
auch sein mögen, so sind das Thema "heidnische Religionsausübung" und erst recht die Details zu
den uns hier interessierenden Themen stets hoch verdächtig, in vielen Einzelheiten der Fabulierlust
der Dichter zu entspringen. Denn die Sagas sind ja erst sehr spät entstanden, als heidnische Praxis
nur noch eine ferne Erinnerung war. Aber auch da muss man natürlich nach Einzelfall
differenzieren.
Die glaubhaft klingenden Berichte sind an Zahl und Umfang leider sehr dünn. Die ausführlichste
Quelle ist der Auftritt einer Völva namens Thorbjörg in der grönländischen Saga von Erich dem
Roten (Eiríks saga rauða, Kap. 4), die ihrer Wichtigkeit wegen hier im Wortlaut vorgestellt werden
soll. Die nachfolgende Übersetzung von Thomas Grothe wurde von mir noch einmal genau mit
dem Originaltext verglichen und die entscheidenden Begriffe in Klammern im Original aufgeführt:
"Zu dieser Zeit herrschte eine große Hungersnot auf Grönland; die Männer, die zur Jagd und auf
Fischfang gegangen waren, hatten wenig Beute gemacht, einige kamen sogar gar nicht zurück.
Die Frau war dort in der Gegend, die Þorbjörg hieß; sie war eine Seherin [spákona] und wurde
kleine Seherin [lítil-völva] genannt. Sie hatte neun Schwestern gehabt, die allesamt auch
Seherinnen [spákonur] waren, aber nur sie allein lebte noch. Im Winter war es Þorbjörgs
Gewohnheit, sich zu Festgelagen zu begeben, zu denen sie von den Menschen eingeladen wurde,
die neugierig darauf waren, wie ihre Versorgung oder die Ernte sein würden. Und weil Þorkell der
größte Bauer war, dachte man, man könne an ihm erkennen, wann diese Missernte, die
andauerte, aufhören würde. Þorkell lud die Zauberin zu sich ein. Sie wird dort gut empfangen, wie
es Gewohnheit war, wie eine Frau empfangen werden sollte. Für sie war ein Hochsitz errichtet
worden, auf dem sich ein Kissen befand, das mit Hühnerdaunen gefüttert werden sollte. Und als
sie und der Mann, der ihr entgegen geschickt worden war, am Abend eintrafen, war sie dergestalt
gekleidet, dass sie einen blauen Mantel trug, der bis zum Rockschoß zur Gänze mit Steinen
gesäumt war; sie trug Glasperlen am Hals und auf dem Kopf eine schwarze Lammfellhaube, die
innen mit weißem Katzenfell gefüttert war; auch hatte sie einen Stab, auf dem sich ein Knauf
befand. Er war aus Messing gemacht und auf dem Knauf befand sich ein Stein. Sie trug einen
Zundergürtel, an dem eine große Ledertasche befestigt war, in der sie ihre Zaubergegenstände
[töfr] aufbewahrte, die sie zur Zauberei [fróðleiks] benötigte. Sie trug zottelige Kalbfellschuhe mit
langen Schnürriemen, an deren Enden sich große Zinnknöpfe befanden. An den Händen trug sie
Handschuhe aus Katzenfell, die innen weiß waren. Und als sie eintrat, dachten alle Menschen, sie
sollten ihr angemessene Begrüßungen gewähren. Sie nahm diese entgegen, je nachdem wie die
Männer ihr nach dem Sinn waren. Der Bauer Þorkell nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem
Sitz, der ihretwegen errichtet worden war. Þorkell bat sie, einen Blick auf Leute und Vieh zu
werfen und ebenso auf die Wohnstätte. Sie sagte wenig über alles. Am Abend wurde Tische
aufgestellt, und es ist davon zu berichten, was für die Seherin zubereitet wurde: ihr wurden
Ziegenmilchgrütze und Herzen von allen Tiere kredenzt, die dort vorhanden waren. Sie hatte einen
Messinglöffel und ein Messer mit einem Griff aus Walrosszahn, eingefasst mit zwei Kupferringen
und an der Spitze abgebrochen. Und als die Tische abgeräumt worden waren, trat der Bauer
Þorkell vor Þorbjörg und fragt, wie angenehm ihr die Wohnstätten oder die Art und Weise der
Männer erschienen, und wie schnell er Gewissheit darüber bekommen würde, wonach er sie
gefragt hat und wonach es den Männern am meisten zu wissen verlangt. Sie sagte, sie werde es
nicht vor dem Morgen kundtun, nachdem sie zuerst eine Nacht geschlafen hat. Und Tags darauf,
am Ende des Tages, wurde ihr diese Vorbereitung erwiesen, derer sie bedurfte, um ihre Zauberei
auszuüben [fremja seiðr]. Sie bat auch darum, solche Frauen herbeizuholen, die das Gedicht
beherrschen, das Varðlokur heißt, und das für den Zauber [seiðsins] nötig war. Aber es fand sich
keine einzige Frau. Dann wurde die Suche auf das ganze Gehöft ausgedehnt. Da sagt Guðríðr: 'Ich
bin weder zauberkundig [fjölkunnig] noch eine Seherin [vísindakona], aber doch lehrte mich
Halldís, meine Ziehmutter, auf Island das Gedicht, das sie Varðlokur nannte. Þorkell sagt: “Dann
besitzt du hilfreiches Wissen.' Sie sagt: 'Es verhält sich aber so, dass ich nicht vorhabe, Beistand zu
gewähren, da ich eine Christin bin.' Þorbjörg sagt: 'Es ist doch möglich, dass du den Menschen hier
helfen könntest und dadurch keine schlechtere Frau als zuvor würdest; und Þorkell gegenüber
werde ich abwägen, die Unterstützung zu erhalten, die ich brauche.' Þorkell bedrängt nun Guðríðr
solange, bis sie sich dazu bereiterklärt, das zu tun, was er wollte. Dann zogen Frauen einen Kreis
um den Hochsitz, auf dem Þorbjörg saß. Guðríðr sagte dann das Gedicht so schön und gut auf,
dass alle dachten, das Gedicht noch nie mit schönerer Stimme gehört zu haben, als jener hier. Die
Spá-Frau dankte ihr für das Gedicht und sagte, viele Geister, 'die uns vorher meiden und keine
Untertänigkeit erweisen wollten', haben sie nun aufgesucht und ihnen schien es schön zu hören,
dass das Gedicht so ausgezeichnet vorgetragen worden war.' Aber nun sind mir viele
Angelegenheiten offensichtlich, die mir und manchen anderen zuvor verborgen waren. Und ich
kann dir, Þorkell, sagen, dass diese Missernte nicht länger als den Winter über dauern und sich der
Ertrag im Frühjahr verbessern wird.'"
Auch hier hat man Skepsis bei Details angemeldet und Fabulierlust des Dichters vermutet, aber
dafür gibt es kaum plausible Argumente. Nichts an dem Bericht wirkt grell, übertrieben oder gar
phantastisch, sondern er ist von nüchterner Genauigkeit und verzeichnet sogar solche
Nebensächlichkeiten wie die abgebrochene Spitze ihres Messers. Weitere vernünftig klingende
Berichte (wie z.B. in der Vatnsdœla saga) können in Details zwar nicht mit dem Auftritt der
Thorbjörg mithalten, bestätigen ihn aber in Details.
Nun taucht allerdings auch in der Thorbjörg-Episode der Begriff "fremja seiðr" (Seidhr betreiben)
auf, was die Argumentation dieses Artikels angreifbar erscheinen lassen mag. Das sagt zunächst
aber einmal nicht mehr aus, als dass bei Spá auch der zusätzliche Einsatz von Seidhr möglich war.
Und in diesem Sinne hat auch Kveldulf Gundarsson das so zu erklären versucht, dass der Begriff
hier gezielt deshalb gebraucht wird, weil Thorbjörg ein spezielles Gedicht benötigt, um externe
Geistwesen zu befriedigen, die sich versammelt hatten, um Thorbjörg Wissen zu vermitteln, was er
als speziellen Sonderfall einschätzt.
Ich neige zu einer anderen Erklärung: Der Kontakt zu Hilfsgeistern, der ja kennzeichnend für
schamanische Trancetechniken ist, dürfte im Gegenteil gerade für Spá kennzeichnend gewesen
sein, wohingegen Seidhr als Magie/Zauberei auf ganz anderen Techniken beruhte. Die
germanische Magie funktionierte anders, als die orientalische, die so großen Einfluss auf das
neuere magische Weltbild Europas genommen hat und Pate bei dem ritualmagischen
Magieverständnis stand, das so typisch für die okkult-hermetischen Strömungen des 18. und 19.
Jahrhunderts war und wie es praktisch als Konzentrat von einer Figur wie Crowley verkörpert wird.
Während letztere häufig Geister, Dämonen oder andere übernatürliche Wesenheiten in den Dienst
des Magiers zu zwingen versucht, geht die alte europäische Magie von einer Automatik der Kräfte
aus, die die Welt bewegen. Hier ging es um rein handwerkliche Praktiken, mit denen die
unsichtbaren Mechanismen beeinflusst werden sollten. Götter oder andere Wesenheiten spielten
dabei keine Rolle, diese Magie basierte viel mehr auf quasi naturgesetzlicher Empirik. Sie war
äußerst pragmatisch ausgerichtet, hatte also ausschließlich das Resultat vor Augen. Heutige
Ansichten von Magie als Weg zu persönlicher Weiterentwicklung oder Welterkenntnis mögen ja
gerne ihre Berechtigung haben, mit der germanischen Auffassung von Magie/Seidhr aber haben
sie nichts zu tun.
Wenn Thorbjörgs Spá also mit Seidhr in Erwähnung gebracht wird (und das nur in einem einzigen
beiläufigen Nebensatz), wird das möglicherweise überschätzt. Zwar sollte man das heute nicht
besser wissen wollen, als damalige Zeitgenossen, dennoch sollte man bedenken, dass die
grönländische Kolonie damals schon lange christianisiert war und der Bericht darüber noch viel
später niedergeschrieben wurde.
Insgesamt lassen die Quellen nämlich vielmehr nur den Schluss zu, dass entgegen Snorris (und
Simeks) oben zitierter Behauptung Spá und Völventum gerade eben nichts mit Magie und Zauberei
(also Seidhr) zu tun hatten. Im Gegenteil. Die beiden Bereiche scheinen sich sogar gegenseitig
ausgeschlossen zu haben. Die nun folgenden Indizien dafür springen in den Quellen geradezu ins
Auge.
Alle auftretenden Seherinnen werden entweder als Völva (wörtlich: Stabträgerin) oder aber als
spákona (Seherin) bezeichnet, nie aber als seiðkona (also Zauberin). An keiner ernst zu
nehmenden Stelle macht eine Völva irgendetwas anderes, als in die Zukunft zu sehen. Nirgendwo
wird erwähnt, dass sie weitere Fähigkeiten besitzt, die etwas mit Seidhr zu tun hätten. Umgekehrt
üben Personen, die als Seidhr Ausübende geschildert werden, nie die Funktion einer Seherin oder
eines Sehers aus, und es wird auch nie von ihnen gesagt, dass sie die Fähigkeiten dazu hätten.
Das wird auch durch die Wortwahl in der Thorbjörg-Episode gestützt. Dort antwortet Guðríðr auf
die Frage nach Kenntnis des Gedichtes ja bezeichnenderweise, dass sie selbst "WEDER
zauberkundig, NOCH eine Seherin sei", woraus ebenfalls klar wird, dass Seidhr (also Zauberei und
Magie) und Spá (Völventum) zwei völlig unterschiedliche Bereiche waren, die sich gegenseitig
ausschlossen. Dieses Gesamtbild ist sehr eindeutig, auch wenn es in den sehr späten Sagas aus
dem 14. Jahrhundert zwei einzelne "Ausrutscher" gibt (Örvar-Odds saga and Hrólfs saga kraka),
wo gesagt wird, eine Frau sei "Völva UND Seiðkona". Aber bezeichnenderweise wird ja selbst hier
noch genau unterschieden. Wäre die Bedeutung beider Begriffe deckungsgleich (wie es sich heute
eingebürgert hat), wäre die getrennte Bezeichnung hier ja gar nicht nötig. Zudem sind es nur
diese späteren und zu fantastischer Ausschmückung neigenden Sagas, die Seherinnen zusätzlich
als "seiðkonur" bezeichnen, so dass wir hier eine nachheidnische Übergangsstufe erkennen, die als
Endpunkt in jene grelle Verzerrung mündete, wie sie das folgende Zitat aus der Thidreks Saga
darstellt:
"Hierauf sammelte sich um König Hertnit ein großes Heer. Und seine Frau Ostacia ging hinaus und
rief ihre Götter an, das heißt, sie ging hin zu beschwören, so wie es in der Vorzeit geschah, dass
zauberkundige Frauen, die wir Völven nennen, zu beschwören pflegten. Und so weit trieb sie es in
der Zauberkunst und Beschwörung, dass sie allerlei Tiere, Löwen, Bären und große fliegende
Drachen beschwor. Die zähmte sie alle, bis dass sie ihr gehorchten und sie gegen ihre Feinde
hetzen mochte. Und es wird gesagt [...], dass ihr Heer dem bösen Feinde selber gleich war und sie
selber erschien wie ein fliegender Drache."
Hier haben wir also die für christliche Zeit typische Dämonisierung, wo die Seherin alter Zeiten mit
der Hexe und Zauberin zu einer literarischen Standardfigur zusammengeflossen war, die offenbar
mit dem Teufel verbündet ist und als Allround-Magierin daherkommt. Leider sind auch Snorris
Erwähnungen in seinen pseudo-historischen Werken von dieser Sorte, wie sein obiges Zitat schon
befürchten ließ, das von Unverständnis und christlicher Ablehnung geprägt ist. Und leider haben
auch heutige "Hexen" dieses rein christliche und undifferenzierte Bild übernommen und es lediglich
mit positivem Selbstverständnis versehen.
Aus den Quellen geht ebenfalls hervor, dass Seherinnen im Gegensatz zu Seidhr-Leuten geachtete
Mitglieder der Gemeinschaft waren und ihre Tätigkeit als "ehrbares Handwerk" eben im Dienst und
zum Nutzen dieser Gemeinschaft betrachtet wurde. Dieser Eindruck aus der Thorbjörg-Episode
wird auch aus anderen Quellen deutlich, so in Nornagests þáttr, wo berichtet wird:
"Völven, die man auch als Seherinnen [spákonur] bezeichnete, zogen durch das Land und sagten
die Schicksale [ørlög] der Menschen voraus, weshalb viele Männer sie auf ihre Gehöfte einluden,
Feste für sie ausrichteten und sie zum Abschied reich beschenkten." (Flateyjarbók I, Ólafs saga
Tryggvasonar).
In mythologischen Belegen steht das Wissen um die Zukunft mit Frigg und Gefion in Verbindung
(Lokasenna, Gylfaginning), von denen gesagt wird, sie würden alle Schicksale kennen, die aber
gerade keine Verbindung zu hexerischen Seidhr-Künsten à la Freyja aufweisen. Und wenn
mythologische Details als weitere Indizien dienen dürfen, sollte man beachten, dass der Seidhr-
kundige Odin entgegen Snorris Behauptung gerade nicht mit der Spá-Kunst in Zusammenhang
gebracht wurde. Denn anders ist es nicht zu erklären, dass er in der Unterwelt eine Seherin
aufwecken musste, um Details über Baldrs Schicksal zu erfahren und dass er auch in Völuspá der
Dienste einer Völva bedarf. Auch die darüber hinaus in der Edda auftretenden Seherinnen (Baldrs
Träume, Hyndlalied) haben keinerlei Bezug zur Magie, der Begriff "Seiðr" wird in Verbindung mit
ihnen sorgfältig vermieden (mit Ausnahme der undurchsichtigen Heiðr in Völ. 22). Sie sehen in die
Zukunft, sonst nichts.
Ganz im Gegensatz dazu steht die Beschreibung der Seidhr-Kundigen, die argwöhnisch als
gesellschaftliche Außenseiter betrachtet wurden und deren Tätigkeit durchweg als
Schadenszauberei dargestellt wird, die teilweise auch noch egoistischen Zielen diente. Trotz der
besagten wenigen "Ausrutscher" aus schon christlicher Sagazeit ist das Gesamtbild also eindeutig,
dass es auch schon in heidnischer Zeit einen bedeutsamen Unterschied zwischen der positiv
empfundenen Spá-Kunst und der negativ betrachteten Seidhr-Praxis gab. Und es gibt einen
weiteren eddischen Beleg, der sehr aussagekräftig ist, und der die strikte Trennung der Bereiche
endgültig belegt:
"Alle Seherinnen [völur] stammen von Viðólfr ab, alle Zauberer [vitkar] von Vilmeiðr, und alle
Seidhr-Kundigen [seiðberendr] von Svarthöfði" (Hyndlalied 33).
Hier werden also sogar ganz unterschiedliche Genealogien mit jeweils eigenen Urahnen postuliert,
was bei der damaligen Bedeutungsfülle von Abstammungslinien ein deutliches Indiz für das
zeitgeschichtliche Verständnis der Unvereinbarkeit (oder zumindest der strikten Trennung) dieser
drei Bereiche war, die den Begriffen Spá, Galdr und Seidhr entsprochen haben dürften. Wie die
Unterscheidung zwischen Seidhr und Galdr ausgesehen und ob sie lediglich in Schadens- und
Gutzauberei oder in weiteren Details gelegen hat, kann und soll hier nicht erörtert werden. Ihre
Trennung von Spá aber ist offensichtlich.
Beide Begriffe haben übrigens bis ins heutige Isländische überlebt, und auch heute noch steht
"spá" für Wahrsagung, Prophezeiung und "seiðr" für Hexerei, Zauberei. Das ist angesichts der
häufigen Bedeutungswandel von Begriffsinhalten für sich genommen zwar kein Beweis, im Fall der
extrem konservativen isländischen Sprache aber immerhin ein weiteres und gewichtiges Indiz.
Soweit die Quellenlage, die insgesamt sehr eindeutig ist. Natürlich kann man nicht kategorisch
ausschließen, dass eine Völva auch in magischen Künsten bewandert war. Genauso wenig kann
man ausschließen, dass die Grenze zwischen Völventum, Seidhr und Galdr vielleicht doch nicht so
streng war, wie die Quellen diesen Eindruck vermitteln. Aber darum ging es ja ursprünglich auch
gar nicht, sondern nur um das heutige Missverständnis, Seidhr sei ein vor allem oder gar
ausschließlich mit dem Völventum zusammenhängendes magisches Spezialgebiet, das als
Sonderform im Gegensatz zu anderen Formen der Magie stehe. Und das ist so eben in keiner
Weise richtig.
Wie eingangs erwähnt, kann man das im deutschsprachigen Ásatrú gerne anders definieren, und
das ist ja auch bereits in einem kaum mehr umkehrbaren Maß erfolgt. Das aber beruht vor allem
darauf, dass der von Diana L. Paxson neu geschaffene Begriff "oracular seidh" hierzulande durch
geflissentliche Ignoranz des entscheidenden Adjektivs in seiner Bedeutung verfälscht wurde, denn
dessen Betonung liegt klar auf dem ersten, nicht auf dem zweiten Wort. Und insofern will sich
dieser Artikel auch weder als Haarspalterei noch gar als Polemik gegen heutige Seidhr-
Praktizierende verstanden wissen. Man muss sich dabei hierzulande nur im Klaren darüber bleiben,
dass ein solches Verständnis in völligem Gegensatz zu den Quellen steht.
Quod erat demonstrandum.