Wodanaz - ein göttlicher Schamane?

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Wodanaz, ich verwende den urgermanischen Namen (althochdeutsch: Wodan/Wotan, altenglisch: Woden) des in der nordischen Mythologie auch als Odin bekannten Gottes, vereint viele Aspekte in seiner Persönlichkeit. Der Wanderer zwischen den Welten ist Schöpfer, Kriegsgott, Fährmann der Seelen, Herrscher in Walhall, Gott der Dichtkunst und Anführer der Wilden Jagd. Und auch bedeutend als Zauberer, Gott der Ekstase und Runenmeister.

Mit der Schilderung und Untersuchung der vielen verschiedenen Wesenszüge, der unzähligen Namen und derer Bedeutungen der komplexen Gestalt Wodanaz lassen sich mühelos Bücher füllen.

Hier ein ganz kurzer Versuch, seinen „schamanischen“ Charakter zu erläutern.

Der Religionswissenschaftler und Verfasser eines der ersten Standardwerke zum Thema Schamanismus, Mircea Eliade, erkannte bereits, dass in der nordisch-germanischen Mythologie einige schamanische Grundelemente zu entdecken sind:

Gewisse Einzelheiten innerhalb der Religion und Mythologie der Germanen lassen sich mit Vorstellungen und Techniken des nordasiatischen Schamanismus vergleichen. Nennen wir die schlagendsten. Gestalt und Mythus Odins – des schrecklichen Herrschers und großen Zauberers – zeigen mehrere Züge, die seltsam schamanisch sind. (Eliade:1975) 

 

Initiation

Die wohl bekannteste Handlung Wotans ist sein Selbstopfer am germanischen Weltenbaum „Yggdrasil“, das er vollzog, um das Geheimnis der Runen zu ergründen.

Im Havamal, einer Textsammlung der Edda, findet sich zu diesem Thema Wotans Runenlied:

Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum
Neun lange Nächte,
Vom Speer verwundet, dem Odin geweiht,
Mir selber ich selbst,
Am Ast des Baums, dem man nicht ansehen kann
Aus welcher Wurzel er spross.

Sie boten mir nicht Brot noch Met;
Da neigt ich mich nieder
Auf Runen sinnend, lernte sie seufzend:
Endlich fiel ich zur Erde.

Im Vergleich mit den entsprechenden Bräuchen anderer Kulturen lassen sich Indizien dafür finden, dass hier recht genau dem Grundschema einer schamanischen Initiation gefolgt wird. Wie in vielen Einweihungsriten ist der bedeutsame Aspekt des Selbstopfers und der Selbstkasteiung durch Schmerz und Anstrengung klar erkennbar. In diesem schamanischen Kontext könnten die Runen den Hilfsgeistern anderer Kulturen entsprechen. Durch sein Opfer erlangt Wotan die Macht über die Helfer in der Anderswelt.

Weiterhin stellt das Bezwingen eines "Weltenbaumes" durch den Schamanen eine durchaus gebräuchliche religiöse Praxis bei der Suche nach mystischem Wissen dar. In sämtlichen schamanisch geprägten Kulturen gibt es Ausführungen, die sich auf das geheimnisvolle Verhältnis zwischen Schamanen und Bäumen beziehen.

Die Vorstellung vom Baum als Zentrum der Welt finden wir auch in „Yggdrasil“ wieder, dessen Gebilde die neun Welten der germanischen Kosmologie umfasst. Der Name des Weltenbaumes der germanischen Mythologie setzt sich zusammen aus „Ygg“, einem Beinamen Wodanaz, der mit „der Schreckliche“ übersetzt wird und „Drasil“, was „Pferd“ bedeutet. Da das Pferd in unzähligen überlieferten Quellen anderer Kulturen als ein bevorzugtes Transportmittel des Schamanen bei seiner Geistreise durch die Anderswelt gilt, bezeichnet Wodanaz Hängen an der immergrünen Esche eben auch seine Reise durch die Welten. In seiner ekstatischen Handlung erforscht er die weiteren Ebenen des spirituellen Kosmos und durchbricht die Hindernisse seiner eigenen Möglichkeiten.

An anderer Stelle opfert Wodanaz ein Auge, um in Mimirs Quelle der Weisheit blicken zu dürfen und seherische Kräfte zu erwerben - auch hier erhält er also durch ein Selbstopfer bestimmte Fähigkeiten.

 

Gestaltenwandel

Um den heiligen Met Odrörir in seinen Besitz zu bringen, schlüpft Wodanaz in Schlangengestalt durch einen engen Durchlass in den Berg, in dem der Trunk von der Riesentochter Gunnlöd bewacht wird. Nachdem er drei Nächte mit der Riesentochter verbracht hat, verspricht ihm diese zum Dank drei Schlucke vom Met. Wodanaz aber leert mit jedem Zug ein ganzes Fass. Daraufhin verwandelt er sich in einen Adler und steigt auf nach Asgard, wo er den Met in die Hörner der Asen spuckt. So gelangen die Götter in den Besitz dieses wunderbaren Trankes.

In der Edda finden wir dazu folgendes:

Gunnlöd gab mir auf goldenem Stuhl
einen Zug vom Zaubertrank; leidigen Lohn
liess ich ihr übrig
für vertrauensvolle Treue
für sorgenvollen Sinn.
Die betörte Schöne
hab ich schlau benutzt:
nichts ist Weisen verwehrt; denn Odrörir
ist nun aufgestiegen
zur Wohnung des Weltenherrn

Das „schamanische“ Motiv des Gestaltenwandels ist hier offensichtlich.

Nebenbei ist aber auch die Herstellung dieses Zaubergetränkes aus schamanischer Wahrnehmung interessant:

Als der Götterkrieg zwischen den Geschlechtern der Asen und Wanen beendet wurde, und sich die Götter zur Versöhnung trafen, erzeugten sie Kvasir, in dem sie ihren Speichel in einem Kessel vermischten. Zu einem späteren Zeitpunkt fand Kvasir dann durch zwei Zwerge ein jähes Ende. Diese vermengten sein Blut mit Honig - und es entstand der heilige Met, der jeden, der davon trinkt, zum Skalden oder Weisen macht.

 

Heilung

Zum Aspekt der schamanischen Heilung finden wir im zweiten Merseburger Zauberspruch aufgezeichnet, wie Wodanaz mit einem magischen Spruch das Bein eines verletzten Pferdes heilt:

Phol und Wodan
ritten in den Wald.
Da wurde dem Pferd (vgl. Fohlen) Balders
der Fuß verrenkt.
Da besprach (vgl engl. to beguile) ihn Sinthgunt
und Sunna, ihre Schwester;
da besprach ihn Frija,
und Volla, ihre Schwester;
da besprach ihn Wodan,
wie nur er es verstand:

Sei es Knochenrenke,
sei es Blutrenke,
sei es Gliedrenke:
Knochen zu Knochen,
Blut zu Blut,
Glied zu Gliedern,
als ob geleimt sie seien.

Und auch im Manuskript des Angelsächsischen Neunkräutersegens wird er als kundiger Heiler erwähnt:

Diese 9 [Kräuter] haben Macht gegen neun Gifte.

Eine Schlange kam gekrochen, zerriss einen Menschen;

da nahm Wodan 9 Ruhmeszweige,

erschlug da die Natter, dass sie in 9 [Stücke] zerbarst.

dass sie niemals mehr ins Haus kriechen wollte.

 

Nun haben diese 9 Kräuter Macht gegen neun böse Geister,

gegen 9 Gifte und gegen neun ansteckende Krankheiten.

…    

                                                                               

Magische Begleiter

Wie schon weiter oben im Zusammenhang mit Yggdrasil ausgeführt, ist der wohl wichtigste tierische Begleiter Wodanaz sein Zauberhengst Sleipnir. Er trägt ihn auf der Suche nach Erkenntnis und Erfahrung durch die neun Welten des germanischen Universums.

In verschiedenen Überlieferungen der Sage der wilden Jagd wird davon erzählt, wie Wotan während der Zeit der Wintersonnwende mit seinem achtbeinigen Ross Sleipnir an der Spitze seines Gefolges durch die Lüfte galoppiert. Dort, wo der Geifer von Wotans Pferd auf den Boden tropft, wächst neun Monate später ein Fliegenpilz – eine äußerst „schamanische“ Pflanze, denn in einigen schamanisch geprägten Kulturen benutzen Zauberpriester und Geistheiler den Fliegenpilz, um sich in einen Rauschzustand zu versetzen und dadurch die Grenze zur Anderswelt zu überschreiten.

Der achtbeinige Schimmel Sleipnir ist im Übrigen ein typisches Schamanentier. Das achtbeinige Pferd finden wir auch bei einigen sibirischen Kulturen - immer in Beziehung zum ekstatischen Zustand.

Jeden Morgen schickt Wotan seine treuen Raben Hugin (Gedanke) und Munin (Erinnerung) zum Flug über die Welten aus, damit diese die Neuigkeiten erkunden. Diese gefiederten Begleiter können im schamanischen Kontext als „ausgelagerte“ seherische Eigenschaften Wotans verstanden werden, wobei der Allvater ja zudem auch von seinem Hochsitz in Asgard die Welt überblickt und alles sieht, was sich dort ereignet.

Ebenfalls zu Wodanaz Begleitern gehören die Wölfe Freki (der Gefräßige) und Geri (der Gierige) als Totentiere des Schlachtfeldes. In Walhall verzehren sie alle Speisen, die Odin gereicht werden, während er nur den Met trinkt.

Was nebenbei die weiteren Wahrzeichen und Artefakte des einäugigen Gottes angeht, so ist hier aus schamanischer Sicht der Ring Draupnir als magisches Objekt besonders interessant. Dieser Ring, von dem in jeder neunten Nacht acht neue Ringe abtropfen, soll seinem Besitzer neben der Erfüllung von Wünschen die Gabe der Unsichtbarkeit verleihen. Draupnir wurde vom Zwerg Sindri geschmiedet. Wodanaz schleuderte ihn in das Bestattungsfeuer seines Sohnes Baldur, aber Hermodur brachte ihn von seiner Reise nach Hel wieder zurück.

 

Totenorakel

Wodanaz erweckt durch seinen Zauber eine alte Völva aus dem Reich der Toten, um sie über zukünftige Ereignisse zu befragen. Diese weissagt ihm daraufhin den Tod Baldurs und das Eintreten von Ragnarök.

Um über die Zukunft Kenntnis zu erlangen, ist aber wohl der Kopf Mimirs Wotans dienlichster Ratgeber. Nachdem dieser Riese enthauptet wurde, fand Wotan sein blutiges Haupt und salbte es mit heilenden Kräutern. Daraufhin öffneten sich die Augen wieder, und der Mund konnte wieder Worte hervorbringen und auf divinatorische Fragen antworten.